Teil 2: AVPU & Massive Hemorrhage

Unsere 8-teilige Reihe zum Thema MARCH Algorithmus

Disclaimer! Dieser und die folgenden Beiträge der MARCH-Reihe sind für den Blog und den Newsletter kurzgefasst und erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Absicht dieser Beiträge ist es, einen allgemeinen Überblick in die Untersuchung und Versorgung nach MARCH zu geben.
Aus Gründen der Leserlichkeit werden in diesem und in den folgenden Beiträgen die militärische Bezeichnung „Verwundeter“ (für Verletzter/Patient) und das generische Maskulinum verwendet.

Ran an den Verwundeten: Was zuerst?

Im letzten Beitrag wurden die Versorgungsphasen und Gefahrenzonen im Tactical Combat Casualty Care (TCCC) behandelt. Jede dieser Phasen kann in „zivile“ Lagen – wie zB. einen Autounfall auf der Autobahn – übertragen werden, auch wenn wir uns in diesem und den folgenden Blog Beiträgen weiterhin an militärischen Einsatzlagen orientieren werden. Eine eigene Phaseneinteilung einer Ersthelfersituation in „Bedrohungs-abstufungen“ kann für die innere Struktur und Priorisierung der nötigen Schritte sehr hilfreich sein!

Doch wie geht man vor? Dies ist am einfachsten anhand eines Beispiels zu verdeutlichen: Eine Gruppe Fallschirmjäger bewegt sich durch urbanes Gelände, als sie plötzlich beschossen werden. Sofort bewegen die Soldaten sich hinter Deckungen und erwidern das Feuer mit dem Ziel, Feuerüberlegenheit herzustellen. Einer der Soldaten liegt jedoch auf der Straße und hält sich den Oberschenkel – er ist getroffen!
Sein Gruppenführer ruft ihm zu, er solle sich selbst mit dem Tourniquet versorgen („Selbsthilfe“), sich nach Möglichkeit in Deckung bewegen und weiter auf den Feind wirken. Der getroffene Kamerad reagiert nicht wirklich und es wird deutlich, dass er von der Straße in eine Deckung verbracht werden muss. Trotzdem läuft niemand los!
Erst als Feuerüberlegenheit erreicht und der Feind niedergehalten ist, befiehlt der Gruppenführer die Rettung des Getroffenen.
Ein Soldat, der in der nächsten Deckung hinter einem Mauerrest steht, rennt auf die Straße, sieht schon im Näherkommen eine große Blutlache am rechten Oberschenkel seines Kameraden. Der Soldat prüft noch einmal, ob die Feuerüberlegenheit weiterhin besteht, reißt das Tourniquet vom Plattenträger des Getroffenen, legt es ihm „high and tight“ an den rechten Oberschenkel und zieht den Verwundeten hinter den Mauerrest. Hier prüft er sofort den Sitz des Tourniquets („steht die Blutung?“ – „Ein bewegter Patient ist ein neuer Patient!“) und spricht den getroffenen Kameraden mit Namen an. Dieser reagiert nicht auf Ansprache. Der Soldat beginnt sofort mit einem sog. „Blood Sweep“ (siehe unten) und ruft den Medic der Gruppe zu sich. Als der Medic eintrifft, beendet der Soldat gerade den Blood Sweep und spricht den Getroffenen abermals an. Als dieser wieder nicht reagiert, kneift der Medic ihm fest in die Innenseite des Oberarm und der Verwundete reagiert nicht.

AVPU: Wie „wach“ ist mein Verwundeter?

AVPU ist ein Akronym, was dabei hilft, die Vigilanz – also die Wachheit bzw. Daueraufmerksamheit – des Verwundeten zu überprüfen und im Verlauf zu dokumentieren.
Hierbei beurteilt der Medic, ob der Verwundete spontan wach ist, erst auf Ansprache reagiert, nur durch einen Schmerzreiz erweckbar ist oder überhaupt keine Reaktion zeigt (alternativ kann man sich auch an dem deutschen WASB orientieren).


AVPU/WASB

A – Alert
V – Verbal
P – Pain
U – Unresponsive

W – Wach
A – Ansprache
S – Schmerzreiz
B – Bewusstlos

Meist erfolgt eine unterbewusste Erstbeurteilung schon während der Annäherung an einen Verwundeten, der Anleitung zur Selbsthilfe, des Blood Sweeps oder einer möglichen Tourniquetanlage. Es gibt keine feste Regel, was zuerst erfolgen muss. Meist spricht man einen Verwundeten ganz automatisch direkt an, sobald man bei ihm eintrifft. Trotzdem sollte man sich als Erstversorger einmal ganz deutlich bewusst machen, wo man den Verwundeten anhand des AVPU-Schemas zunächst einordnen würde, auch wenn die Beurteilung möglicherweise parallel zur Versorgung einer massiven Blutung stattfindet.

Natürlich gibt ein einfaches AVPU noch keinen Aufschluss darüber, warum genau ein Verwundeter vigilanzgemindert ist. Trotzdem ist die Information für den Behandelnden von großer Wichtigkeit, da eine Bewusstlosigkeit ein absolut kritischer Zustand des Verwundeten anzeigt!

Die stetige AVPU-Kontrolle im Verlauf der Erstversorgung zeigt dem Medic ob bspw. die Behandlung eines Blutungsschock mit Flüssigkeit (folgt in Beitrag 5) erfolgreich ist (Verwundeter wird wacher), ob sich der Blutungsschock verschlimmert (zB. bei unkomprimierbarer, innerer Blutung) oder ob möglicherweise ein Schädel-Hirn-Trauma (folgt in Beitrag 6) vorliegen könnte.

Wenn der Verwundete nicht bewusstseinsverändert ist, ist dies kein Grund, sich zurückzulehnen. Nicht nur könnte eine Vigilanzminderung jeden Moment eintreten und somit weiterführende, komplexe Behandlungsschritte nötig machen, sondern der Verwundete könnte auch wach bleiben, was ganz besondere Herausforderungen mit sich bringt.
In TCCC-Übungen – insbesondere von Ersthelfer A/B, die nie wirklich Berührung mit echten Patienten haben – wird oft vergessen, dass es sich im Realfall eben nicht um die Cesar-Puppe handelt, sondern dort ein echter Mensch vor einem liegt, der sich in einer absoluten psychischen Ausnahmesituation befindet! Mit einem wachen Verwundeten muss dauerhaft kommuniziert werden: Maßnahmen müssen angekündigt werden, der Verwundete ist (zB. schmerz-/angstbedingt) möglicherweise wenig kooperativ, man muss als Versorgender beruhigend wirken, obwohl man selbst massiv unter Adrenalin steht… Um nur einige der erschwerenden Faktoren zu benennen.
Es sollte jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass ein wacher Verwundeter auch über nutzbare Ressourcen verfügt. So kann er einem zum Beispiel Auskunft darüber geben, wo genau er besondere Schmerzen hat oder bei dem eigenen Verwundetentransport unterstützen.

AVPU: Schmerzreiz?

Der Schmerzreiz wird – besonders in der zivilen Medizin – häufiger diskutiert, hat sich jedoch über lange Zeit in der Notfallmedizin – und somit auch im TCCC – fest etabliert. Wie setzt man also am besten ein Schmerzreiz? Hierzu gibt es mehrere Möglichkeiten, die situations- und verwundetenabhängig eingesetzt werden. Die meisten kennen aus dem Erste-Hilfe-Kurs das sog. „Sternumreiben“, wobei man sehr fest mit den Fingerknöcheln über das Brustbein reibt (mehrmals von oben nach unten).
Besonders bei Einsatzkräften gestaltet sich das jedoch wegen der Schutzausrüstung im ersten Moment schwierig. Alternativ kann fest mit den Fingernägeln in das empfindliche Nasenseptum gezwickt werden oder die weiche Haut des inneren Oberarms gekniffen und „eingedreht“ werden. Wacht der Verwundete durch diese Maßnahmen nicht auf, ist er als „unresponsive“ zu kategorisieren.


Exkurs: „Unconcious“ vs. „Unresponsive“
Häufig wird im Rahmen des AVPU ein nicht- reagibler Verwundeter als „unconcious“ beschrieben.
Korrekt (und eleganter) ist aber die Bezeichnung „unresponsive“, da formal nach einem Schmerzreiz noch nicht zu sagen ist, warum der Verwundete nicht reagiert – eine Bewusstlosigkeit (unconciousness) ist nur ein möglicher Grund.

Diese einfachen Untersuchungsalgorithmen können durch die sog. „Glasgow-Coma-Scale“ erweitert werden, um die Vigilanz des Verwundeten in einem späteren Secondary Survey weiter zu quantifizieren. Die Glasgow-Coma-Scale ist eine (prä-)klinisch häufig verwendete Methode, bei der man aber immer bedenken sollte, dass sie besonders für die Untersuchung
Exkurs: „Unconcious“ vs. „Unresponsive“ Häufig wird im Rahmen des AVPU ein nicht- reagibler Verwundeter als „unconcious“ beschrieben.
Korrekt (und eleganter) ist aber die Bezeichnung „unresponsive“, da formal nach einem Schmerzreiz noch nicht zu sagen ist, warum der Verwundete nicht reagiert – eine Bewusstlosigkeit (unconciousness) ist nur ein möglicher Grund.

des Schädel-Hirn-Traumas entwickelt wurde und deshalb nicht für jeden Notfall gleich gut funktioniert!

MARCH – Massive Hemorrhage

Die massive Blutung hat in der Notfallversorgung die höchste Priorität, da sie in kürzester Zeit letal ist. Das Blut ist in verlorener Menge im Feld nicht ersetzbar und bildet die Grundlage für die lebenswichtige Sauerstoffversorgung der Organe (hierzu mehr im Beitrag zu „Circulation“ und Schock).
Trotzdem ist, insbesondere die lebensbedrohliche Extremitätenblutung, eine beherrschbare Verletzung, wenn zügig und aggressiv durch einen Kameraden oder den Verwundeten selbst, gehandelt wird.


MARCH – Erkennen einer massiven Blutung

Eine massive Blutung fällt gegebenenfalls direkt ins Auge, wenn es zB. arteriell (hellrot) spritzt/sprudelt, Amputationsverletzungen vorliegen oder die Kleidung und der Boden unter dem Verwundeten in Blut getränkt sind.
Bei jedem Verwundeten sollte zu Beginn des MARCHens ein schneller Blood Sweep durchgeführt werden.
Hierzu streicht man die Extremitäten und die junktionalen Bereiche (Leiste, Achsel, Hals/Nacken) des Verwundeten ab und prüft, ob sich Blut an den eigenen Händen befindet. Wichtig hierbei ist, vor allem die bodennahen Bereiche abzustreifen (liegt der Verwundete auf dem Rücken: Unter die Beine/das Becken und zwischen die Beine greifen), da sich das Blut, der Schwerkraft folgend, unter dem Verwundeten sammelt und nicht immer direkt auf jeder Kleidung erkennbar ist (bspw. auf schwarzer Kleidung oder unter einem Nässeschutz).
Eine potentiell lebensbedrohliche Blutung muss nicht immer hellrot-sprudelnd sein! Sie kann auch die Summe mehrerer blutender Verletzungen an einer Extremität sein!

AirMeG-Tipp:
Innerhalb der Airborne Medical Group haben wir uns dafür entschieden, den Blood Sweep nicht von Kopf bis Fuß durchzuführen, sondern zunächst die Beine, dann die Arme und dann die junktionalen Regionen abzustreifen.
Dies ist dadurch bedingt, dass man jede gefundene Blutung sofort behandelt. Beginnt man nun im junktionalen Bereich, muss man direkt ein Woundpacking durchführen, was insgesamt über 10 Minuten dauern kann (je nach verwendetem Material).
Hat der Verwundete dann eine starke Extremitätenblutung, wird er daraus in der Zeit verbluten.
Da eine Tourniquetanlage dieses in wenigen Sekunden kann, suchen wir zunächst nach Extremitätenblutungen, stoppen diese und widmen uns erst danach einem möglichen Woundpacking.

MARCH – Massive Hemorrhage im Care under Fire

Im Care under Fire werden ausschließlich direkt sichtbare, lebensbedrohliche Extremitätenblutungen durch direkten Druck oder ein Tourniquet versorgt (für mehr Informationen zum Tourniquet, ließ den Blogbeitrag der Airborne Medical Group).

Das Tourniquet ist in diesem Fall „high and tight“ anzulegen – also so stammnah wie möglich und so fest wie möglich – bis die Blutung steht. Hiermit ist eine einheitliche, sichere Anlage unter maximalem Stress gewährleistet und man kann davon ausgehen, dass auch mehrere Blutungen an derselben Extremität gleichzeitig gestoppt werden.

Im Care under Fire ist KEINE Zeit um ein Woundpacking stammnaher Wunden durchzuführen! Ziel der Versorgung in dieser gefährlichen Phase ist das Verhindern des letalen Blutverlustes durch eine Tourniquetanlage und das zügige Verbringen der Verwundeten in eine adäquate Deckung, in der weitere Maßnahmen erfolgen können.

MARCH – Massive Hemorrhage im Tactical Field Care

Das Erreichen einer Deckung, hinter der in einer Gefechtspause in relativer Sicherheit gearbeitet werden kann, markiert den Beginn der Tactical Field Care Phase. Während des TFC wird das MARCH-Schema am Verwundeten abgearbeitet. Diese „Gelbe Zone“ kann jederzeit wieder zur „Roten Zone“ werden, was eine Unterbrechung des MARCH-Schemas und eine Wiederaufnahme des Gefechts durch alle verfügbaren Kräfte bedeutet!

Erreicht der Verwundete die Deckung (selbstständig oder mit Hilfe der Kameraden), werden direkt alle bereits gestoppten Blutungen re-evaluiert und, wenn nötig, erneut behandelt. Dieses „reassessment“ gilt es, nach jeder Bewegung des Verwundeten (zB. nach dem „check the back“, welches im Beitrag zum „Respiration“ behandelt wird) durchzuführen, um wiederauftretende Blutungen direkt zu stoppen.
Spätestens jetzt erfolgt der schnelle Blood Sweep.
Alle starken Extremitätenblutungen werden mit einem Tourniquet kontrolliert (CAVE: Bei Anlage am Oberschenkel können zwei Tourniquets nötig sein) und alle stammnahen Blutungen durch ein Woundpacking mit anschließendem Druckverband behandelt (weitere Behandlungsmöglichkeiten starker Blutungen, wie zB. das X-STAT, das „junctional Tourniquet“ oder die IT-Clamp werden hier nicht behandelt).

Ist ein angelegtes Tourniquet nicht ausreichend, insuffizient, zu nahe an einer Wunde gelegen oder defekt, wird nach Möglichkeit ein weiteres direkt oberhalb des ersten (side by side) angelegt und das erste nicht entfernt.
Es ist essenziell, jedes Tourniquet – ungeachtet der Reaktion des Verwundeten – maximal festzuziehen und zu sichern! Nur so kann es nachhaltig Blutungen stoppen und medizinische Komplikationen (siehe „Kompartmentsyndrom“) werden weniger wahrscheinlich.

Sind alle lebensbedrohlichen Zustände nach dem „DurchMARCHen“ behoben, kann im Rahmen eines weiteren MARCH-Reassessments eine Tourniquet-Konversion zu einem „tieferen“ (distaleren) Punkt einer Extremität erfolgen, oder das Tourniquet durch ein Woundpacking mit Druckverband ersetzt werden. Dies sollte jedoch nur durch einen gut ausgebildeten Medic und innerhalb der ersten zwei Stunden nach initialer TQ-Anlage erfolgen. Hierdurch verspricht man sich die Schonung des übrigen, nicht verletzten Gewebes oberhalb der Blutung.
Wichtig ist es, dass „high and tight“ angelegte Tourniquet nicht einfach zu entfernen, sondern es nach Anlage/Durchführung der Ersatzmaßnahme vorsichtig zu lockern und den Erfolg der Ersatzmaßname zu evaluieren. Beginnt die Blutung erneut, zieht man das erste Tourniquet wieder komplett fest und belässt es!

Eine Besonderheit, die im Zusammenhang mit der Kontrolle lebensbedrohlicher Blutungen erwogen werden kann, ist die Anlage einer Beckenschlinge direkt zu Beginn des MARCHens, in Abhängigkeit vom Verletzungsmechanismus (Blast, Autounfall, Sturz aus großer Höhe), um so eine potenziell lebensbedrohliche Blutung im Becken zu verhindern oder zu komprimieren.

Zurück in die Lage…

Der getroffene Fallschirmjäger wurde entsprechend der aktuellen TCCC-Guidelines zur Selbsthilfe angeleitet. Nachdem er nicht in der Lage war, seine Blutung am Oberschenkel mit dem Tourniquet zu versorgen, wurde ihm während der Feuerüberlegenheit von seinem Kameraden das Tourniquet angelegt, welches nach Eintreffen in der ersten Deckung reassessed wurde. Der Kamerad führte einen kompletten Blood Sweep vor und der Medic nahm eine erste Vigilanzbestimmung nach AVPU vor.
In der Dokumentationskarte DD1380 sind die bisher bekannten Informationen über den Verwundeten dokumentiert. Diese wird in den nächsten Blogbeiträgen weiter ausgefüllt, während der Medic das MARCH-Schema an seinem Kameraden abarbeitet.


Im nächsten Beitrag geht es weiter mit dem Airway. Abonniere den AirMeG-Newsletter um keine Inhalte zu verpassen.

AirMeG Newsletter

Melde dich jetzt bei unserem Newsletter an und bleibe immer auf dem Laufenden über neue Kurse, Beiträge & Events.